03 Arch.

Die Stadt von morgen vs.

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Mit der Aufmerksamkeitsökonomie der Konsumgesellschaft wurde Zentralität zur Falle. Die Dichotomie zwischen Stadt und Land hatte sich längst aufgehoben. Es ging nur noch um Peripherie versus Zentrum. Zuerst wollten alle ins Zentrum, danach alle aufs Land, bis sie merkten, dass sich dabei nur die Fahrtrichtung auf der Autobahn änderte, nicht aber ihr Lebensstil. Die Beschleunigung nivellierte die Unterschiede. Plötzlich war es still. Am Anfang war die Ruhe beinahe erdrückend. Jedes Geräusch war bemerkbar. Man fühlte sich beobachtet. Kann man Gedanken hören? Schwer senkte sich die Langeweile über den Einzelnen und erst langsam gewöhnten sich die Sinnesorgane an die neue Langsamkeit. Man sah die Insekten wieder, hörte die leisesten Geräusche. Die Gedanken bewegten sich. Was passiert morgen? Was möchte ich? Hier beginnt der Film, hier startet die Stadt (   ) Landschaft von morgen.

Die Stadt der Zukunft entstand nicht aus den Begierden der Gegenwart noch aus den Projektionen einer rückwärtsgewandten Nostalgie. Die Stadt der Zukunft definierte sich über die Idee einer möglichen Zukunft für die Nachkommenden.

Erst mit den Einschränkungen kam der Wandel. Erst als man nicht mehr erreicht werden konnte, wurde die Peripherie zur Peripherie. Erst als man nicht überall gleichzeitig sein wollte, konnte der Alltag das Zentrum wieder übernehmen. Stadt und Land wurden wieder als Ganzes erlebbar.

Nach mehreren Umweltkatastrophen wurde jede weitere Versieglung verboten. Das Abreißen von Gebäuden auch. War die Stadt fertiggebaut? Nein. Architekt*innen wurden zu Archäolog*innen. Die Auseinandersetzung mit dem Bestehenden wurde zu einer Grabung durch die Schichten der Zeit. Die großen Projekte wurden hinfällig. Die neuen Formen wurden kleinteilig. Der Entwurf tastet die Stadt ab, ohne sich ihr willenlos zu unterwerfen. Die Orte entstehen parallel im Kopf. Komplexe Geometrien bilden immer wieder neue verquere Situationen und verwandeln so die Paradoxien der modernen Stadt in lebendige Stadträume. Neue Räume im Alten, voller Erinnerungen, die so wieder Teil der Verstrickungen des Alltags werden. Mit der Zeit und der Sorgfalt wurden die Details wieder zum Thema und Unterschiede wieder sichtbar. Architektur war nicht mehr bauen, sondern auch pflanzen, säen und pflegen. Die Stadt wurde zur Landschaft, alles bewegt und verändert sich. Und mit ihr die Architektur.

Das Entwerfen der Programme wurde zur Haupttätigkeit der Architekt*innen und Urbanist*innen. Da die Gebäude nicht andauernd um- oder neugebaut werden konnten, fand sich in ihnen immer Neues ein. Verschiedenste Sharing-, Miet- oder Pachtmodelle ermöglichten neue Räume für die unterschiedlichsten Ideen der pluralistischen Gesellschaft. Die ständige Arbeit am Programm wurde so, wie beim Ausstellen, zu einer Arbeit des Kuratierens. Funktionierte die Komposition, entstanden Synergieeffekte. Eine Energie, die das Quartier eine Zeit lang am Leben hält. Funktionierte sie nicht, entstand schnell wieder Raum für Neues.

Die offene Gesellschaft sperrte sich selbst ein. Die Idee der offenen Grenzen war nur noch ein leerer Euphemismus. Gebäude, Siedlungen grenzten sich zur Nachbarschaft ab. Unter dem Vorwand des Naturschutzes erstellten Regionen Zugangsbeschränkungen. Die soziale Ungleichheit zeigt sich nun deutlich auch in der Abgrenzung der Areale. Jeder für sich, schufen sich all die Selbstgerechten ihr eigenes Paradies und zerstörten so die europäische Idee des durchgehenden öffentlichen Raums. Der Raum gleicht einem Archipel, in dem jede Gruppe sich selbst als Insel genügt. Scheinbar, denn das Ideal der offenen Gesellschaft blieb erhalten, nur der Weg dahin ist wieder länger geworden.

Viele steigen in immer kürzeren Abständen aus dem System aus. Sabbatical, Neuanfang oder ein kompletter Ausstieg sind fast zur Regel geworden. Dies führt zu zwei Geschwindigkeiten. Neben der neuen Langsamkeit ist die alte Geschwindigkeit geblieben. Beide existieren nebeneinander und wie bei einem Zug kann man ein- oder aussteigen. Es wurde einfach zu einer Frage der Selbstorganisation, wie fast alles in der Stadt (   ) Landschaft von morgen.

Der virtuelle Raum wirkt immer realer. Das Interface wurde immer weiter perfektioniert, sodass sich virtuelle Treffen kaum noch von realen unterscheiden. Wochenlang kann man so im Netz leben und arbeiten, ohne den Platz zu wechseln. Und doch gibt es ein Bestreben, das Leben zu rematerialisieren. Erde umgraben, Essen selbst anbauen, Tiere halten und mit eigenen Händen bauen und basteln. Was als Trend beginnt, wird zur Notwendigkeit, um den eigenen Körper wieder zu spüren. Denn der Körper ist geblieben, mit all seinen Problemen und Krankheiten. Dirty Realism ist nicht mehr der distinguierte Blick einiger Akademiker*innen auf die anderen. Dirty Realism ist das neue Bewusstsein, den Tod zu akzeptieren.

Sans Fin
Es gibt kein Ende, dies ist nicht einfach ein Kinofilm, sondern das Leben. Selbst wenn wir nicht handeln, stehen wir in der Verantwortung. Der Ökozid, das Massensterben der Arten, ist Realität. Die Geschichte der Stadt (   ) Landschaft von morgen müssen wir gemeinsam schreiben. Kapitel für Kapitel. Dies war nur ein möglicher Anfang. Sieht so die Zukunft aus?


Text von Andreas Garkisch